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Alles, was ist, endet: „Ein deutsches Requiem“ in der Carnegie Hall

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Hundertzweiunddreißig Chorsänger stehen auf der Bühne des großen Saals der Carnegie Hall. Der Westminster Symphonic Choir aus Princeton singt „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms, begleitet von den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Daniele Gatti. Die Einleitung des Orchesters klingt träumerisch. Melodiebildung ist Evolution, spontan und langgezogen. Das Universum überlässt sich grüblerisch seinen dunklen Gedanken. Der erste Einsatz des Chors ruft die Zuhörer in eine andere Welt, eine Sphäre der klaren Unterschiede und strengen Gliederung.

Vielstimmigkeit heißt hier Abzählbarkeit: Man kann die Chorstimmen stets auseinanderhalten. Der Ton des von Joe Miller einstudierten Riesenchors hat nichts Verwaschenes, franst nicht aus. Das Requiem von Brahms, eine Trauerkantate aus deutschen Bibelworten, ist eine Meditation über die Endlichkeit. Aber dieses metaphysische Sujet schließt nicht nur Gemütswerte wie Schwäche, Erschöpfung, Hinfälligkeit ein, sondern verweist auch auf Formqualitäten: Kürze, Bestimmtheit, Takt. Ein Ton, der einen Anfang hat, hat auch ein Ende, existiert für eine gewisse Zeit zwischen zwei Pausen.

Ihre Werke folgen ihnen nach: der Westminster Symphonic Choir und die Wiener Philharmoniker© Jennifer TaylorIhre Werke folgen ihnen nach: der Westminster Symphonic Choir und die Wiener Philharmoniker

In den großen Fugen des zweiten und sechsten Satzes bleiben in aller Verschmelzung die Themen erhalten, und das heißt: Tonreihen. Die Auswahl des Textmaterials für die Fugen akzentuiert dieses Prinzip der Reihung: „Preis und Ehre und Kraft“. Der elementare Individualismus der Tonsprache weckt Zweifel an der These des amerikanischen Musikwissenschaftlers Daniel Beller-McKenna, das 1869 erstmals komplett aufgeführte Werk habe das Publikum auf die apokalyptische Wiedergeburt der deutschen Nation einstimmen wollen. Im Prinzip der diskreten Klänge überlebt, wie gerade der Chorgesang sinnfällig macht, der Gedanke der individuellen Unsterblichkeit.

Die Westminster-Sänger heben das Nacheinander der Töne hervor, indem sie auch Füllsilben nicht verschleifen: Die da Leid tragen, „so-hol-len“ getröstet werden. Die blockhafte Silbentrennung hat den Effekt einer wuchtigen Objektivität. Etwas Sperriges prägt sich ein: das verballhornte Element, das Wort, das sich nicht zur Lautmalerei verflüchtigt, gerade weil es anders aussieht als im Schriftbild. So nimmt der scheinbar übermäßig genaue, pedantisch zerlegende Vortrag die Offenbarung vorweg, die der zweite Satz dem Schauspiel der allgemeinen Verwesung des Fleisches entgegensetzt: „Aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit.“

Das erste Wort dieses Verses stößt der Chor mit solcher Gewalt heraus, dass es alle Wörtlichkeit verliert. Es ist kein Wort mehr im Sinne einer konventionellen Sinneinheit, deren Bedeutung man im Wörterbuch nachschlagen kann. Der ruhig dahinströmende Fluss einer Naturtheologie, die sich damit tröstet, dass auf die Dürre der Regen folgt, wird jäh gestaut. Das Bleiben des Herrenwortes ist kein Naturvorgang, kein Schlagen von Wurzeln, viel eher ein Abschlagen: Gnade, die schwerthaft dazwischenfährt. Der christliche Gehalt dieser Kirchentondichtung ist vielleicht doch stärker, als die gängige liberal-protestantische Lesart zugestehen will, die darauf abhebt, dass von der Göttlichkeit, Auferstehung und Wiederkunft Christi nicht ausdrücklich die Rede ist.

Sehet mich an: Daniele Gatti© Jennifer TaylorSehet mich an: Daniele Gatti

„Denn alles Fleisch, es ist wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen.“ Das ging in echter Herrlichkeit dahin, entfaltete sich im organischen Wachstum eines großen Atembogens. Aber der Kreislauf der Resignation ist nicht alles. Es bleibt das Wort. Auch wenn man das „aber“ im Moment des Einschlags nicht identifiziert, hat man es verstanden. Die Funktion rettet die Bedeutung: Dieses Wort ist das Zeichen der Zäsur, die Konjunktion der Disjunktion.

Zweimal hat der Bariton Christian Gerhaher die Interjektion „siehe“ zu singen. An der zweiten Stelle, im sechsten Satz, nimmt er das Wort im prophetischen Duktus des ersten Briefes des Paulus an die Korinther: „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis“. Dieses „siehe“, anschwellend, raumgreifend, vibrierend, ist eine Geste der triumphalen Umsicht: Den Adressaten, die noch nichts sehen können, wird ein Himmelspanorama ausgemalt. Das erste „siehe“, im dritten Satz, ist spröde, fast tonlos, und richtet sich an einen Zuhörer, der fraglos sehen kann und im Zweifelsfall schon zu viel gesehen hat. „Siehe, meine Tage sind einer Hand breit vor dir“: Gerhaher hält die Eröffnungsformel dieser Lebensbilanz des Psalmdichters, den Imperativ, der nur rein grammatikalisch ein Befehl ist, so schmal wie die Zeitstrecke, auf die diese Aufforderung die Aufmerksamkeit Gottes lenkt, den auf einen heilsbürokratischen Routinevorgang zusammengeschnurrten Lebensweg. Dem Auge des Richters kann nichts entgangen sein, trotzdem muss er angerufen werden.

Nun, Herr, wes soll ich mich trösten? Christian Gerhaher© Jennifer TaylorNun, Herr, wes soll ich mich trösten? Christian Gerhaher

Mit dem Ausruf „Ach“ wechselt Gerhaher die Farbgebung. Schwelgerisch beschwört er die trügerischen Sekuritäten des bürgerlichen Wohlstands: „wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben“. Im Rückblick stellt sich der deklamatorische Vortragsstil, den Gerhaher für seine ersten Verse wählte, als franziskanische Option für die armen Töne dar. Gerhaher gebe vor, seine Stimme sei gar nicht ausgebildet: Diesen Eindruck empfing der Kritiker der „New York Times“. Man glaubt dem Sänger, dass er die Lektion schon verstanden hat, um deren Erteilung er Gott bittet: „Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss.“ Das Wesentliche am Gesang ist die Linie, das Wesen des Lebens die Linearität, die Erstreckung zwischen Anfangs- und Endpunkt.

Die Sopranistin Diana Damrau gestaltet ihr Solo im fünften Satz mit äußerster Dezenz. „Ihr habt nun Traurigkeit“ – diese Bestandsaufnahme setzt sich hinweg über die Faustregel der Alltagspsychologie, dass man an Schmerzliches nicht rühren soll. Aber das Mitleiden ist hier eine Übung der Diskretion. Die Töne scheinen von innen zu kommen, und die Verheißung des mütterlichen Trostes, die Zusage einer Freude, die den Trauernden niemand nehmen kann, ist bei Diana Damrau Ausfluss und Steigerung der Innigkeit. Bei der Wiederkehr des „Ihr habt nun Traurigkeit“ gleitet sie hinein in die Phrase, als hätte die Trauer keine Ecken und Kanten und Spitzen mehr. In diesem Nun ist das Singen ein Flirren. Die Zeit steht still.

Denn wir haben hie keine bleibende Statt: Der Chronist sitzt im Parkett, Mittelblock, drittletzte Reihe, zweiter Platz von rechts.© Jennifer TaylorDenn wir haben hie keine bleibende Statt: Der Chronist sitzt im Parkett, Mittelblock, drittletzte Reihe, zweiter Platz von rechts.

Gerhard Rohde, der am 25. Februar verstorbene Musikkritiker dieser Zeitung, schrieb am 25. Mai 1994 in einem Bericht über Brahms-Konzerte aus Salzburg: „Musikalische Interpretation enthält stets ein hohes Maß an Subjektivität, in der Wirkung auf den Hörer auch an Einbildung, Suggestion des Augenblicks, Verklärung.“ Beim Verlassen der Carnegie Hall hört man von mehreren Besuchern die Meinung, es sei schade, dass der Solosopran im „Deutschen Requiem“ nicht mehr zu singen habe.

von patrickbahners erschienen in Grand Central ein Blog von FAZ.NET.


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